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Funktionsweise des Gedächtnisses und ihre Entwicklung

1.1  Wiedererkennen und Erinnern - Reproduzieren


Sowohl im Alltag als auch in der psychologischen Forschung interessieren uns zwei wesentliche Gedächtnisleistungen, das Wiedererkennen und das Erinnern.

1.1.1    Wiedererkennen

Das Wiedererkennen ist die Verbindung von momentan wahrgenommenen Ereignissen mit früheren Ereignissen desselben Typs. Das Wiedererkennen ist im Alltag offensichtlich von entscheidender Bedeutung und stellt die einfachste Leistung des Langzeitgedächtnisses dar. Entwicklungspsychologische Untersuchungen zeigen, daß diese grundsätzliche Gedächtnisleistung bereits bei Säuglingen auftritt.FN1 (Fußnoten FN sind am ende des Beitrags) Bereits 6-8 Wochen alte Kinder erkennen ein länger dargebotenes Bild nach 24 h wieder.

Auch im Alter scheint das Wiedererkennen nur wenig beeinträchtigt zu sein. Die Stabilität des Wiedererkennens über das ganze Leben hinweg, läßt vermuten, daß diese Leistung eine "allgemeine Funktionstüchtigkeit des Gedächtnisses", einschließlich ihrer neurostrukturellen Grundlage zeitlebens vorhanden und keiner Entwicklungs-veränderung unterworfen ist ( Reese 1979 ).

1.1.2    Freies Reproduzieren

Freies Reproduzieren ( Erinnern ) ist die aktive Vergegenwärtigung von früheren Ereignissen. Diese Gedächtnisleistung erfordert zusätzlich zu den Prozessen des Einspeicherns und Vergleichens beim Wiedererkennen noch Prozesse des Abrufens von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis. Die Entwicklung des freien Reproduzierens erfolgt später als die des Wiedererkennens. Die Fähigkeit zum Reproduzieren verbessert sich bis zum Erwachsenenalter ständig und nimmt im Alter wieder ab.

1.2     Episodisches und semantisches Gedächtnis

Die Gedächtnisforschung unterscheidet zwei Formen des Langzeitgedächtnisses: das episodische und das semantische Gedächtnis (Tulving 1972).

1.2.1    Episodisches Gedächtnis

Unter episodischem Gedächtnis versteht man "die Speicherung und Reproduktion von zeitlich datierten, räumlich lokalisierten und persönlich erfahrenen Ereignissen oder Episoden" (Brown 1975).

1.2.2    Semantisches Gedächtnis

Das semantische Gedächtnis klassifiziert und gruppiert die Informationen. Die Struktur-ierung erfolgt z.B. nach Bedeutungszusammenhängen, nach begrifflicher Über- und Unterordnung, oder aber auch nach phonetischen Merkmalen.FN2
Das semantische Gedächtnis entwickelt sich später, gewinnt dann aber gegenüber dem episodischen Gedächtnis zunehmend an Bedeutung.

1.3     Funktionseinheiten des Gedächtnisses

Das gebräuchlichste Gedächtnismodell unterscheidet drei Prozeßebenen (vgl. Atkinson & Shiffrin 1986) :
- den sensorischen Informationsspeicher ( sensorischer Buffer )
- den Kurzzeit- und Arbeitsspeicher
- den Langzeitspeicher

1.3.1    Der sensorische Informationsspeicher ( SIS )

Die Aufgaben des sensorischen Informationsspeichers bestehen in der kurzfristigen Speicherung von Sinneswahrnehmungen (für Sekundenbruchteile), um an den Daten eine Mustererkennung und Auswahl durchzuführen.
Die Daten werden dann im SIS kodiert und  nach Modalität (Art und Weise) eingeteilt. Bei Kindern sind die Modalitäten anfangs nicht exakt geschieden, hier finden wir auch die Erklärung warum bei Kindern SynästhesienFN3 häufiger zu finden sind als bei Erwachsenen.

1.3.2    Der Kurzzeit und Arbeitsspeicher ( KZS )

Die Informationsspeicherung erfolgt im KZS für ca. 30 sek.. Seine Kapazität beträgt etwa 7+-2 Elemente.
Der Kurzzeitspeicher ist zugleich Arbeitsspeicher für In- und Output von Gedächtnis-material sowie für das Denken und Vorstellen.
Der KZS baut sich beim Kleinkind mit etwa 8 Monaten auf.FN4 ( Kagan 1979 Vers S.544 )
Die Gedächtniskapazität nimmt als Folge neurologischer Reifung linear zu ( 3 jährige / 1 Informationseinheit ; 5-10 jährige / 7 Informationseinheiten)
Die effektivere Nutzung führt zu einer Erhöhung der Informationsgeschwindigkeit. Im wesentlichen gibt es drei Methoden der Effizienzerhöhung :
a) ChunkbildungFN5 / Erhöhung der Einzelelemente einer Einheit
b) Einsatz von Strategien ( bewußt oder unbewußt ) / wachsende Fähigkeit zur gezielten Aufmerksamkeit
c) Die Automatisierung von Strategien durch häufige Nutzung führt zu einem Prozeßablauf ohne bewußte Kontrolle, mit dem Vorteil eines geringeren  Speicherplatzbedarfs.

1.3.3    Der Langzeitspeicher ( LZS )

Der LZS nimmt einen Teil der Information aus dem KZS auf.
Wir unterscheiden zwischen
1. mittelfristigem Gedächtnis (sekundäres LZS) Informationsspeicherung über Minuten bis zu Tagen.
2. langfristigem Gedächtnis (tertiärer LZS) Informationsspeicherung praktisch zeitlich unbegrenzt.
Gewöhnlich ist mit dem  LZS der tertiärer LZS gemeint.
Im LZS werden die Bedeutungen der aufgenommenen Informationen gespeichert
Die Informationen im LZS sind nicht direkt zugänglich. Deshalb erfolgt eine Katalogisierung der Informationen durch geeignete Hinweise / Adressen (wie bei einer Bibliothek).
Die Leistungsfähigkeit des LZS steigt mit verbesserter Ordnung und Struktur.
Gespeicherte Informationen bleiben nicht unverändert, sondern ändern ihre Struktur durch ergänzende Informationen und Vereinfachungen.
Eine Annahme bezüglich der Entwicklung des LZS : in der frühen Kindheit ist der LZS bereits voll funktionstüchtig. Änderungen erfolgen nur in der Wissensstruktur und im Wissensumfang.