Aggression aus Gehorsam
Wovon hängt die Gehorsamkeitsbereitschaft von Menschen ab? Stimmt „Germans are different“ wirklich? Sind die Verbrechen des Nationalsozialismus tatsächlich nur in Deutschland vorstellbar? Diese und andere Fragen wollte Stanley Milgram 1961 in einem aufseheneregenden sozialpsychologischem Experiment in New Haven auf den Grund gehen. Dazu wurden Faktoren wie Status des Befehlsgebenden, Nähe zum Opfer, Art des Ansporns, Ort des Befehls untersucht.
Das "Milgram Experiment"1
Stanley Milgram, 1933 in New York geboren. Promotion in Sozialwissenschaften an der Harvard
University ; lehrte an der Yale und Harvard University
Fragestellung
Wenn X dem Y aufträgt, Z zu verletzen, unter welchen Bedingungen wird Y den Befehl ausführen ?
Versuchspräsentation
Den Versuchspersonen wurde erklärt, es handle sich um eine Untersuchung über die Auswirkung von Strafe auf das Lernverhalten .
Auswahl der Versuchspersonen
Berufliche Zusammensetzung : 40 % gelernte und ungelernte Arbeiter; 40 % Büroangestellte, Geschäftsleute; 20 % Freiberufliche
Altersstruktur : 20 % von 20-29 Jahren ; 40% von 30-39 Jahre; 40 % über 40 Jahre
Durchführung der Versuche
1.4.1 Variablen der Untersuchung
a) Nähe zwischen Versuchsperson (VP) und Opfer
b) Örtlichkeit
c) Status der Autoritätsperson
Durch die Vielzahl an Kombinationsmöglichkeiten ist eine erschöpfende Versuchsbeschreibung natürlich nicht möglich. Aus diesem Grunde möchten wir hier exemplarisch einen Versuch beschreiben.
1.4.2 Versuchsdatum
Die Versuche wurden 1960 bis 1963 an der Yale University durchgeführt.
1.4.3 Versuchsverfahren
Versuchsraum war ein elegantes Labor in der Yale University. Versuchsleiter ( VL ) spielte ein 31 Jahre alter Biolehrer einer Highschool ( Wirkung auf die VP leidenschaftslos und etwas streng ). Als Opfer war ein 47 Jahre alter Buchhalter ausgebildet worden ( Wirkung auf die VP freundlich und liebenswürdig ). Die Versuchspersonen hatten die Erwartung an einem Experiment zur Steigerung der Gedächtnisleistung durch Bestrafung teilzunehmen. Die Aufgabe des Schülers ( Opfer ) bestand darin, Assoziationspaare zu lernen. Die richtige Antwort sollte er per Knopfdruck mitteilen . Der Lehrer mußte jede falsche Antwort mit einem Stromstoß von 15 bis 450 Volt in 30 Stufen bestrafen, wobei für jede weitere falsche Antwort der Stromstoß um eine Stufe gesteigert wurde. Durch eine fingierte Auslosung wurde die VP als Lehrer bestimmt. Die VP erhielt einen Probeschock von 45 Volt, um sich von der angeblichen Echtheit des Schockgenerators2 zu überzeugen. Der Schüler wurde auf einem Stuhl im Nebenraum festgeschnallt (um evtl. Verletzungen zu vermeiden ) . Um die Vergleichbarkeit der Experimente zu gewährleisten mußten die Reaktionen des Opfers und des VL standardisiert werden.
- Standardinstruktionen zur Verabreichung der Schocks:
Schlüsselbefehl : jedesmal, wenn der Schüler eine falsche Antwort gibt, müssen Sie auf dem
Schockgenerator eine Stufe höher gehen.
- Standardrückkopplung zum VL:
Um die VP zur Durchführung des Experiments zu veranlassen, wurden folgende
Aufforderungen gebraucht :
Ansporn 1 : Bitte, fahren Sie fort ! oder Bitte machen Sie weiter !
Ansporn 2 : Das Experiment erfordert, daß Sie weitermachen !
Ansporn 3 : Sie müssen unbedingt weitermachen !
Ansporn 4 : Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen !
Die Aufforderungen wurden nacheinander gebraucht; nur wenn die Aufforderung wirkungslos blieb, wurde die nächste eingesetzt. Wenn sich die VP nach Ansporn 4 weigerte, weiterzu-machen, war das Experiment beendet.3
- Standardrückkopplung vom Opfer :
Die vom Opfer geäußerten Laute und Worte waren auf Tonband standardisiert und jeweils einer bestimmten Schockstufe zugeordnet.
bis 75 Volt keine Lautäußerung
bis 105 Volt leichtes Knurren
120 Volt Opfer teilt dem VL mit, daß die Schocks jetzt schmerzhaft würden
135 Volt schmerzhaftes Stöhnen
150 Volt Opfer fordert, aus dem Experiment entlassen zu werden
180 Volt ich kann den Schmerz nicht aushalten !!
270 Volt Qualvolles Brüllen
300 Volt Opfer brüllt verzweifelt, daß es keine weiteren Antworten mehr geben werde
( Anwortverweigerung wird auf Anweisung des VL als Falschantwort bewertet )
315 Volt nach einem qualvollen Schrei fordert das Opfer erneut aus dem Versuch ent-
lassen zu werden.
ab 330 Volt keine Lebenszeichen mehr !!!
bis 450 Volt
1.4.3 Bewertungsmaßstäbe
Hauptbewertungsmaßstab war der Höchstschock, den die VP dem Opfer zufügte, ehe sie sich weigerte weiterzumachen. ( 0= völlige Weigerung Schocks zuzufügen bis 30= höchstmögliche Schockstufe )
Erwartungen
Die Vorhersage von Psychologen zum Versuch prognostizierten, daß, abgesehen von einer Randgruppe, praktisch alle VP's den Gehorsam verweigern würden. Sie sagten voraus, daß die meisten VP nicht über die 10. Schockstufe hinausgehen würden ( 150 Volt, erster Protest des Opfers ), etwa 4 % der VP's sollten die 20. Schockstufe ( 300 Volt ) erreichen, und nur 1 %0 würde den höchsten Schock anwenden.
Ergebnisse des Versuchs
Schockstufe in Volt |
-120 |
135 |
150 |
165 |
180 |
-270 |
285 |
300 |
315 |
330 |
345 |
360 |
-435 |
450 |
Anzahl der Abbrüche |
0 |
1 |
5 |
1 |
1 |
0 |
1 |
1 |
3 |
0 |
1 |
1 |
0 |
25 |
n = 40 ; durchschnittliche Maximalschockstufe = 24.53 ( entspricht 368 Volt ) ;
gehorsame VP's = 25 entspricht 62,5 % der VP's
Varianten
1.7.1 Nähe des Opfers
Exp. 1 Fernraum : keine Rückkopplung zwischen Opfer und VP
n=40 durchschnittl. Maximalschockstufe = 27.0 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 65.0 %
Exp. 2 akustische Rückkopplung : wie 1.6 beschrieben
n=40 durchschnittl. Maximalschockstufe = 24.53 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 62.5 %
Exp. 3 Raumnähe : VP und Opfer im selben Raum
n=40 durchschnittl. Maximalschockstufe = 20.80 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 40.0 %
Exp. 4 Berührungsnähe : VP muß die Hand des Opfers auf einer Schockplatte justieren
n=40 durchschnittl. Maximalschockstufe = 17.88 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 30.0 %
1.7.2 Örtlichkeit
Exp. 5 neue Operationslinie : Versuch im Kellerlabor der Uni / Opfer deutet Herzfehler an
n=40 durchschnittl. Maximalschockstufe = 24.55 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 65.0 %
Exp. 10 Bürohaus : Versuch als Forschungsauftrag einer Privatfirma
n=40 durchschnittl. Maximalschockstufe = 20.95 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 47.5 %
1.7.3 Die Autoritätsperson
Exp. 6 Personalwechsel : unterschiedliche. Charakteristika der VL
n=40 durchschnittl. Maximalschockstufe = 22.20 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 50.0 %
Exp. 7 Nähe der Autorität : VL verläßt nach Instruktionen das Labor / Anordnungen über Telefon
n=40 durchschnittl. Maximalschockstufe = 18.15 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 20.5 %
Exp. 13 Befehle durch gewöhnl. Menschen : ein weiterer Lehrer übernimmt das Kommando
n=20 durchschnittl. Maximalschockstufe = 16.25 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 20.0 %
Exp. 13 a VP als Zuschauer : nach Abbruch bei 13 erteilt der zweite Lehrer die Schocks
n=16 durchschnittl. Maximalschockstufe = 24.9 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 68.8 %
Exp. 14 Autorität als Opfer : der VL stellt sich als Schüler zur Verfügung4
n=20 durchschnittl. Maximalschockstufe = 10.0 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 0 %
Exp. 15 Widersprüchliche Befehle : zwei VL , einer für Abbruch einer für weitermachen5
n=20 durchschnittl. Maximalschockstufe = 10.0 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 0 %
Exp. 16 Zwei VL , einer davon Opfer : von zwei VL's stellt sich einer als VP zur Verfügung6
n=20 durchschnittl. Maximalschockstufe = 23.5 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 65.0 %
1.7.4 Frauen7 als VP
Exp. 8 Frauen als VP8
n=40 durchschnittl. Maximalschockstufe = 24.55 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 65.0 %
1.7.5 sonstige Varianten
Exp. 09 Vorbedingung des Opfers :VP stellt Bedingung, wegen Herzfehler abbrechen zu dürfen.
n=40 durchschnittl. Maximalschockstufe = 21.40 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 40.0 %
Exp. 11 VP wählt die Schockstufe selbst : VP bestimmt die Höhe des Schocks
n=40 durchschnittl. Maximalschockstufe = 5.50 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 2.5 %
Exp. 12 Schüler bittet um Schocks : VL will abbrechen, Opfer will weitermachen9
n=20 durchschnittl. Maximalschockstufe = 10.0 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 0 %
Exp. 17 Zwei Gleichrangige lehnen sich auf : von 3 "Lehrern"10 brechen 2 das Exp. ab
n=40 durchschnittl. Maximalschockstufe = 16.45 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 10.0 %
Exp. 18 Ein Gleichrangiger gibt Schocks : VP hat nur Hilfsfunktionen - Zuschauerrolle11
n=40 durchschnittl. Maximalschockstufe = 28.65 Prozentsatz der gehorsamen VP's = 92.5 %
Gehorsam und Verantwortung
Wieviel Verantwortung trägt jeder von uns dafür, daß dieser Mann gegen seinen Willen Elektroschocks erhielt ?
Nach Versuchsende wurden die VP's aufgefordert, die Verantwortlichkeit der Teilnehmer (Versuchsleiter , Versuchsperson & Schüler) zu beurteilen.
|
n |
Verantwortung Versuchsleiter |
Verantwortung Versuchsperson |
Verantwortung Schüler |
ungehorsame VP's |
61 |
38.0 % |
48.4 % |
12.8 % |
gehorsame VP's |
57 |
38.4 % |
36.3 % |
25.3 % |
Ethische Fragen zum Experiment
Bei den Berufspsychologen trat eine gewisse Polarisierung auf. Das Experiment wurde sowohl hoch gepriesen als auch scharf kritisiert. Hauptangriffspunkt war die Besorgnis um das Wohlbefinden der Versuchspersonen. Zweifelsohne waren die Versuchspersonen im Experiment einem enormen Streß ausgesetzt.12 Im Verlauf der Versuche ergab sich jedoch kein Hinweis auf schädliche Folgen.13Wichtigstes Kriterium bei der ethischen Beurteilung sind aber wohl die Rückmeldungen der VP's.
Nachdem ich den Bericht14 gelesen und alles erwogen habe ... |
Ungehorsame |
Gehorsame |
Alle |
1. bin ich sehr froh, an dem Experiment teilgenommen zu haben |
40.0 % |
47.8 % |
43.5 % |
2. bin ich froh, an dem Experiment teilgenommen zu haben |
43.8 % |
35.7 % |
40.2 % |
3. bin ich weder froh, noch tut es mir leid, an dem Experiment teilgenommen zu haben |
0.0 % |
1.0 % |
0.5 % |
4. tut es mir leid, an dem Experiment teilgenommen zu haben |
0.8 % |
0.7 % |
0.8 % |
5.tut es mir sehr leid, an dem Experiment teilgenommen zu haben |
15.3 % |
14.8 % |
15.1 % |
Ferner waren 80 % der VP's der Ansicht, daß weitere derartige Versuche durchgeführt werden sollten und 74 % gaben an, sie hätten durch die Untersuchung etwas für sie persönlich Wichtiges gelernt. Das Experiment wurde auch mit der Begründung kritisiert15, daß es leicht eine Veränderung in der ... Fähigkeit der Versuchspersonen bewirken könnte, künftig erwachsenen Autoritätspersonen zu vertrauen... Milgram meint dazu : Ich würde es als höchst wertvoll halten, wenn die Teilnahme an dem Experiment tatsächlich Skepsis gegen derartige Autorität begründen könnte.
Warum Gehorsam ?- Versuch einer Analyse
1.10.1 Ein Gehorsamsinstinkt ?
Der Mensch ist kein Einzelwesen, sondern funktioniert innerhalb hierarchischer Strukturen. Die Bildung von hierarchisch organisierten Gruppen bietet enorme Vorteile im Kampf gegen unterschiedlichste Gefahren. In dieser Perspektive zeigt sich eine evolutionäre Tendenz ; Gehorsam wurde in der Abfolge von Generationen als vorteilhaftes Überlebenskonzept weitergegeben. Diese Vorteile sozialer Organisation wirken nicht nur nach außen, sondern auch innerhalb der Gruppe. Durch eindeutige Statusbestimmung der Gruppenmitglieder werden die Reibungen zwischen den Mitgliedern auf ein Minimum reduziert und somit eine innere Harmonie gesichert. Gehorsamsverhalten ist nun aber viel zu komplex, um es ausschließlich als Instinktverhalten zu erklären. Um die Ursachen von Gehorsam zu verstehen, müssen wir vielmehr die Wechselwirkungen zwischen angeborenen Strukturen und sozialen Einflüssen betrachten.
1.10.2 Sozialer Einfluß
Eine erschöpfende Betrachtung dieses Punktes bedarf wohl eines separaten Referats, darum wollen wir uns hier auf einige Denkanstöße beschränken. Den ersten Prinzipien des Gehorsams begegnen wir in der Familie. So wird der Gehorsam eines Kindes in unserer westlichen Kultur als einer der Maßstäbe für den Erfolg einer Erziehung betrachtet. Weitere Strukturen des Gehorsams begegnen uns überall dort, wo Menschen auf die eine oder andere Art hierarchisch organisiert sind. ( Schule, Vereine, Kirchen, Militär, Berufsleben, Straßenverkehr ).
Im gesamten Verlauf der Konfrontation mit Autoritäten trifft das Individuum ständig auf eine Belohnungsstruktur, in der Nachgiebigkeit gegen die Autorität im allgemeinen belohnt wird, während die Verweigerung in den meisten Fällen bestraft wird. Obgleich es viele Arten der Belohnung gibt, ist die Beförderung die wirksamste. Diese Art der Belohnung enthält nicht nur eine tiefe emotionale Befriedigung des Menschen, sie sichert auch gleichzeitig die Kontinuität der hierarchischen Form. Das Resultat dieser Erfahrung ist die Verinnerlichung der bestehenden Gesellschaftsordnung.
Aggression Untersuchungen
Protokoll zur Gewalt in Deutschland - eine Replikation und Erweiterung des Milgram Experiments
Die Ergebnisse dieses Experiments wurden 1971 veröffentlicht ( der Nervenarzt 42.Jg., Heft 5 1971 S.252 ff )
Autoritätsgehorsam in Experimenten des Milgram Typs
1989 veröffentlichten Wim Meeus und Quinten Raaijmaakers 16 eine Forschungsübersicht ( Zeitschrift für Sozialpsychologie 1989 , 70-85 ) zu Experimenten des Milgram-Typs.
2.2.1 Übersicht
In verschiedenen Ländern durchgeführte Untersuchungen zeigen, daß das Niveau des Autoritätsgehorsams konsitent hoch liegt. Eine Analyse des Milgram Experiments ergibt, daß dies auf den Status des Versuchsleiters und die Art des jeweiligen sozialen Einflusses zurückzuführen ist sowie auf den Mangel an Orientierungshilfen für die Versuchsperson im Gehorsamskonflikt. Es sind keine systematischen Beziehungen zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und Gehorsam gefunden worden. Die hohe Bereitschaft kann nicht als Effekt von "demand characteristics"17 erklärt werden. Experimente zum Gehorsam können ferner nicht pauschal als unethisch angesehen werden. Das Gehorsamsniveau sank erheblich, wenn die Versuchsperson antizipierte ( etwas gedanklich vorwegnehmend ) durch Ihren Gehorsam selbst zum Opfer zu werden18.
Diskussionsansätze :
Aggression aus Gehorsam in der Geschichte
Kreuzzüge / Kriege / Kirche / Hexenverbrennungen / Vernichtungslager / Nationalsozialismus / Progrome
Aggression aus Gehorsam im Alltag
Militär / aktuelle Linie der kat. Kirche
Anmerkungen
Seminar Interdisziplinäre Ergebnisse zur Aggressionsforschung / G. Haug Schnabel 01.12.94
Thema Aggression aus Gehorsam
Referent Jörg Punge