LMU, Literaturseminar Klinische Neuropsychologie Referentin: Evelyn M.
Dozentin: Prof. Karin Münzel Datum: 10. Mai 2010
Dr. Heinrich Lissauer:
Ein Fall von Seelenblindheit nebst einem Beitrage zur Theorie derselben
Begriffsklärung
Seelenblindheit = visuelle Agnosie
Krankengeschichte
Gottlieb L., 80 Jahre
Kaufmann, leitet sein Geschäft inzwischen alleine
Nur Elementarbildung
Körperlich noch sehr kräftig
Altersbedingte Gedächtnisschwäche (seit 1 Jahr auffällig)
Seit 3 Jahren vorübergehende Schwindelanfälle
Hypochondrische Stimmungen
Auslösendes Ereignis
Fühlt sich 3 Tage sehr schwach und bleibt im Bett
Gerät dann auf einer Geschäftsreise in ein schweres Unwetter
Wird mit dem Kopf gegen eine Bretterwand geschleudert
Kurzfristig schwarz vor Augen (aber keine Blindheit)
Klagt sofort darüber, nicht mehr so gut sehen zu können
Bleibt daraufhin 2-3 Tage im Bett
Auffälliges Symptom
Kann viele gewöhnliche Objekte nicht richtig benennen (erkennt aber einige wenige persönliche Gegenstände immer)
Benennt aber alles, was er betastet oder hört, richtig
Kann Objekte, die er nicht erkennt, trotzdem nachzeichnen
Gestörte Bereiche
· Gesichtsfeld:
o komplette rechtsseitige Hemianopsie
· Farbensehen:
o Kann Farben nicht richtig benennen oder zuordnen
o Kann aber gezeigte Farben aus einer Fülle an Farbproben heraussuchen (Sprachunabhängigkeit!)
· Visuelles Schätzvermögen:
o Kann Größen und Distanzen nicht wörtlich ausdrücken (Meter, Zoll…)
· Stereoskopisches Sehen:
o Kann Tiefenunterschiede nur bis zu 3 cm unterscheiden
· Visuelles Gedächtnis:
o Gestörtes Gedächtnis für ältere visuelle Eindrücke (wahrscheinlich aber Teilerscheinung der allgemeinen Gedächtnisstörung)
· Visuelle Phantasie:
o Kann genannte Gegenstände nur sehr schwer und grob nachzeichnen
o Kann aber schreiben (daher sind visuelle Erinnerungsbilder höchstwahrscheinlich erhalten und es liegt eine spezielle „Zeichenstörung“ vor)
· Nachzeichnen:
o Kann einfache Objekte zwar einigermaßen nachzeichnen, erkennt sie aber nicht
· Zeichnen aus dem Stegreif:
o Zeichnet erst die Einzelteile eines Gegenstands und verbindet sie dann auf absurde Weise
o Hat er einen Teil des Bildes gezeichnet, weiß er nicht mehr, was es darstellen soll (kann also auch nicht lesen, was er geschrieben hat)
· Lesen und schreiben:
o Kann fließend schreiben, aber kaum lesen
o Liest sehr eruptiv nach langem Fixieren
o Leseschwierigkeit ist nicht systematisch auf bestimmte Wörter/Buchstaben bezogen
· Formensinn:
o Soll entscheiden, ob ein vorgelegtes Bild einem dargebotenen Gegenstand entspricht
o Es kostet ihn dabei mehr Mühe, die falsche Zusammenstellung abzulehnen, als die richtige anzuerkennen
o Interpretation des dargebotenen Gegenstands ist hier hilfreich, diese ist aber anscheinend gestört
· Orientierungsvermögen:
o Zunächst sehr schlecht, bessert sich aber
Systematik der Verkennungen
1. Objekt und genannte Bezeichnung haben etwas gemeinsam
o Äußere Ähnlichkeit
o Partielle äußere Ähnlichkeit
o Innere Beziehung
Diese Art der Verkennung war seltener.
2. Die genannte Bezeichnung für ein Objekt war zufällig im Bewusstsein aktiv
Diese Spielart war am häufigsten.
3. Vage Begriffe (auf Verlegenheit zurückzuführen)
Mögliche Ursachen der Verkennungen
1. Sinnestäuschung
o Sieht mehr, als da ist
o Unwahrscheinlich (Patient gibt an, der Gegenstand habe zum Zeitpunkt seiner Verkennung auch nicht anders ausgesehen)
2. Urteilstäuschung
o Verschiebung der Assoziationsvorgänge
o Auf die Wahrnehmung hin wird eine Reihe falscher Schemata / Erinnerungsleistungen aktiv
Ausschlussdiagnosen
Keine Demenz
Keine Aphasie
Ausreichende Sehschärfe
Keine Störung des Sehorgans
Abgesehen von den visuellen Störungen keine zerebralen Herdsymptome
Trennung von Apperzeption und Assoziation
2. Apperzeption
o Vom Verständnis des Wahrgenommenen unabhängig
o Messbar durch das Erkennen von Unterschieden
o Visueller Cortex
3. Assoziation
o Das Wahrgenommene wird mit einem Gegenstandsschema verglichen
o Faserverbindungen
Denkbare Formen einer visuellen Agnosie
Assoziative Störung
Apperzeptive Störung
Störung von Assoziation und Apperzeption
è Patient kann komplizierte Formen nicht richtig apperzipieren. Auch die Assoziation ist gestört. Sie hat ihrerseits auch Einfluss auf die Apperzeption.
Besonderheiten von Lissauers Arbeit im Vergleich zu anderen Arbeiten
Besonders klare Symptome bei Gottlieb L.
Hervorhebung der Bedeutung der transcorticalen Bahnen für die visuelle Agnosie